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Yasujirō Ozu und der westliche Film. Projekthomepage

Zusammenfassung von Yasujirō Ozu, die japanische Kulturwelt und der westliche Film. Resonanzen, Prämissen, Interdependenzen von Andreas Becker, Bielefeld: transcript 2020. ISBN: 978-3-8376-4372-5 [Link transcript-Verlag]

Die Studie verortet das Werk Yasujirō Ozus (1903-1963) in die japanische Kulturwelt und in die globale Welt des Films. Sie rückt die Interdependenzen, Resonanzen, Übersetzungsphänomene kultureller wie bildkultureller Art in den Vordergrund. Exemplarisch wird hier die kulturelle Globalisierung mithilfe der komparativen Ästhetik und der Husserl’schen Phänomenologie beschrieben und analysiert. Dabei werden auch die Arbeitsdrehbücher, Skizzen und Anmerkungen Ozus mit in die Analyse einbezogen und ausführlich im Kontext seiner Filme diskutiert.
Kapitel 1, Vorüberlegungen, arbeitet den theoretischen Rahmen der Studie aus. Dabei dient insbesondere Edmund Husserls Begriff der Welt in seinen Schattierungen als Leitfaden. In der Diskussion des Terminus Kulturwelt wird der an sich sehr offene Begriff Kultur präzisiert. Wie mithilfe von Rolf Elberfelds Arbeiten zur komparativen Ästhetik gezeigt wird, bestehen verschiedene Valenzen des Welt-Konzepts. Husserl unterscheidet zwischen den Begriffen Kulturwelt, Umwelt, Fremd- und Heimwelt wie zwischen Nah- und Fernwelt. Fundiert sind diese Begriffe in der Lebenswelt. Diese Konzepte lassen sich insbesondere durch den Umgang mit der Unbestimmtheit voneinander abgrenzen, wobei wiederum Husserls Begriff der Unbestimmtheitsstelle von Bedeutung ist. Dass eine Kultur als fremde erscheint, erfahre ich insbesondere durch ein Erwartungsdefizit wie der Inkongruenz der Wahrnehmungshorizonte, also in einem Resonanzprozess der alternen, wechselseitigen Auffassung. Ergänzend wird hierzu der Begriff der medialen Welt eingeführt, also der in den Bildmedien wie dem Film dargestellten und global distribuierten Welt. Durch die mediale Welt kann ich – indirekt – andere Kulturwelten erfahren und eine eigene Fremdheitserfahrung machen. Die Studie rekurriert immer wieder auf diese Bezüge der Welten und präzisiert diese am Beispiel von Ozus Filmen. Der Film, als westlicher Import, verknüpft die Kulturwelten und erzeugt eigentümliche globale Resonanzeffekte interkultureller Wahrnehmung.
Kapitel 2, Materialien, gibt einen Überblick über die Forschungsliteratur wie die Materialien zu Ozu. Da die Studie eine Neulektüre von Ozus Filmen durch seine handschriftlichen Ergänzungen, Skizzen und Anmerkungen unternimmt, werden diese Materialien hier aufgelistet und der Stand der Forschung diskutiert.
Kapitel 3, Shakkei. Ozu und der geliehene Raum, ist das erste analytische Kapitel der Arbeit. Es stellt detailliert dar, wie Ozu den aus der Gartenkunst bekannten Begriff des shakkei (übers. geliehene Landschaft) auf die Filmästhetik überträgt. Damit Yasujiro Ozu, die japanische Kulturwelt u 332 nd der westliche Film geht eine andere Wichtung der Sinnesfelder, vor allem aber ein anderer Umgang mit dem Vorder- und Hintergrund und den Kadrierungen einher. Durch einen Vergleich zwischen Ji Chengs Yuanye (1635) und Christian Cay Lorenz Hirschfelds frühromantischem Konzept in seiner Theorie der Gartenkunst (1779-1785) wird zunächst dargelegt, wie grundlegend sich die Theorie des Landschaftsgartens von der Ji Chengs unterscheidet. Bei Ji Cheng evoziert der Garten Bewussteins- und Wahrnehmungsformen, während bei Hirschfeld die Illusion einer fugenlosen Zusammenstimmung von Garten und Natur im Vordergrund steht. Das zugrunde liegende Raumkonzept ist ein anderes: dort ein durch Schnitte und harte Wechsel vollzogenes, hier ein illusionistisches, auf einem Subjektbegriff beruhendes. Anhand einer konkreten Gartenanalyse der Tempelanlage des Engakuji in Kita-Kamakura, wo Ozus Urne beigesetzt ist und die einigen seiner Filme als Kulisse dient, wird am Beispiel der Priesterklause beschrieben, wie das shakkei konkret umgesetzt wird. In Folge diskutiert dieses Kapitel, wie das shakkei-Konzept die filmische Ästhetik Ozus prägt. Dies geschieht, indem Ozu vorhandene shakkei-Szenen in der japanischen Umwelt motivisch darstellt, aber auch, indem er die ästhetischen Prinzipien des shakkei, eben die der Egalisierung von Vorderund Hintergrund, auf den Film überträgt. Unter anderem an den Filmen Late Spring (Banshun, 1949), Walk Cheerfully (Hogaraka ni ayume, 1930), There Was a Father (Chichi ariki, 1942), Early Summer (Bakushū, 1951) wird dargelegt, wie Ozu über die Architektur und deren shōji-Schiebewände und durch die Darstellung buddhistischer Stätten die Landschaft ›entleiht‹. Damit erschließen sich zentrale Szenen dieser Filme neu, etwa die Tempelszenen in Late Spring wie auch die berühmte Szene der Vase im Abendlicht in Kyōto. Zum Abschluss des Kapitels wird gezeigt, wie das shakkei dazu dient, die Imagination zu aktivieren und den Bildcharakter zu entdecken, eine Landschaft zu einem Bild zu machen.
Kapitel 4, Semiotische Räume. Ozus Zeichen, unternimmt einen Exkurs in die Sprachwissenschaft und fragt nach den Besonderheiten der japanischen Schrift im Vergleich zur westlichen Alphabetschrift. Dabei werden ausführlich einige Merkmale, wie deren ideographischen Charakter, die Trennung zwischen Schrift- und Oralkultur, der Bezug zur chinesischen Kultur, die Kanji-Zeichen und deren Zusammengesetztheit aus den Radikalen wie auch die Kalligraphie beschrieben. Ein weiteres Teilkapitel widmet sich den Eigenarten der japanischen Grammatik, die Sätze ohne ein Subjekt kennt und die ohne Weiteres mit geringerem Aufwand (nämlich mit einer der zwei vorhandenen Silbenschriften) notiert werden könnte. Diesen Merkmalen folgend rückt Ozus An Autumn Afternoon (Sanma no aji, 1962) in den Blick. In einer berühmten Szene malt der Lehrer Sakuma das Zeichen für Seeaal (hamo,鱧) in die Luft. Die durch die Kanji-Zeichen ermöglichten Feindifferenzierungen werden hier ausführlich diskutiert. Dazu wird ein weiteres Merkmal von Ozus Filmen beschrieben: deren Umgang mit Schrifttafeln, Zeichen, Werbung im öffentlichen Raum.
Kapitel 5, Action-Cut. Drehbuch-Analyse von Equinox Flower (Higanbana), beschreibt in einer detaillierten Analyse von Ozus Arbeitsdrehbuch zu Equinox Flower Ozus Siglen »a-c« in ihren Varianten. Wie anhand von Ozus Notizen sowie einer Auf listung aller nahezu hundert Anmerkungen und einer Zuordnung zu den jeweiligen Filmszenen gezeigt wird, lassen sich die Siglen als Montageanweisungen verstehen, nämlich als Abkürzung für Action-Cut. Mit Rückgriff auf Klassiker der Montagetheorie wird zunächst herausgearbeitet, wie anders Ozu das Verfahren einsetzt. Dies ist zwar ein Topos in der Ozu-Forschung seit den Arbeiten von David Bordwell und Kristin Thompson, Aufbau - Structure - 構成333 unbemerkt bliebt bislang allerdings die Tatsache, dass Ozu sich des Verfahrens wie auch der Abgrenzung zum westlichen Einsatz als Schnitt in die Bewegung vollkommen bewusst war. Ozu montiert wissend auf die Gesten, meistens auf Sitzende, wechselt den Spin des Raumes in klarer Kenntnis der Andersartigkeit seines Stils. Seine Anmerkungen zeigen, dass das, was als Erkenntnis der Forschung galt, von Ozu bereits sehr ausgearbeitet wurde. Diesen Hinweisen folgend entwickelt das Kapitel eine kleine Montagetheorie von Ozus Filmen. Durch Lektüre seines Aufsatzes Eiga no bunpō (Die Grammatik des Films, 1947) wird gezeigt, wie ausgiebig Ozu sogar über seine eigene Ästhetik ref lektiert und diese analysiert. Ozu setzt die Montageformen sehr fortschrittlich ein und nimmt u.a. in Equinox Flower sogar – mit einfacheren Mitteln freilich – Alfred Hitchcocks Vertigo-Zoom vorweg.
Kapitel 6, Spiritueller Raum. Gedanken, Erinnerungen und Trance, folgt dem esoterischen Ozu, der auf eine sehr subtile Weise Geister, Tote darstellt und dem Anwesenheit mehr ist als physische Präsenz. Gerade in Late Autumn (Akibiyori, 1960) wird schon zu Beginn auf das chabashira Bezug genommen, das Stehen der Teestiele in der Tasse, welches als Omen begriffen wird. Ozu verwischt in diesen späten Filmen nicht nur die Grenzen zwischen physischer und spiritueller Präsenz, er wandert auch zwischen den Bildebenen hin- und her, verwandelt Szenen im Nu in Stillleben. Carl Gustav Jungs Konzept der Synchronizität, selbst entwickelt nach Lektüre des Yijing-Orakelbuchs, wird hier eingeführt, um diese Aspekte von Ozus Werk zu beschreiben. Gerade die eindrucksvollsten Szenen von Tōkyō Story (Tōkyō monogatari, 1953) beruhen darauf, dass der physische Raum durch die Charaktere gedanklich überwunden wird, so die berühmte Zugszene.
Kapitel 7, Ozus Räume, rekurriert nochmal auf die Räumlichkeit Ozus und zeigt, wie Ozu über die Filme hinweg Kulissenräume erschafft, vor allem die der Bars und Restaurants, die eine Labyrinthstruktur erzeugen. Quer über die Filme hinweg schlüpfen die (oft von den gleichen Darstellern gespielten) Charaktere in die nahezu gleichen Räume, gleichnamigen Bars. Ozu unternahm einen großen Aufwand, nicht nur für die Filmkulissen, sondern auch für das Location-Scouting, wie wiederum durch Rückgriff auf Archiventwürfe gezeigt wird. Er macht den Bildcharakter durchlässig, indem er Bilder japanischer Künstler ausstellt, etwa die Kaii Higashiyamas ( 東山魁夷), Meiji Hashimotos (橋本明治) und Eizō Katōs (加藤栄三) und diesen eine dramaturgische Funktion gibt.
Kapitel 8, Skizze. Ozu und John Ford, folgt den Gemeinsamkeiten der Regisseure und zeigt, wie viele stilistische Ähnlichkeiten es zwischen beiden Filmemachern gibt und wo Ozu sich von seinem Lieblingsregisseur Ford inspirieren lässt.
Kapitel 9, Blicke. Scham- und Schuldkulturen, greift Jean-Paul Sartres Theorie des Blickes und der Scham auf und verbindet sie mit Ruth Benedicts Beschreibung der japanischen Schamkultur. Das Kapitel übernimmt diese zunächst kulturanthropologische Unterscheidung und transferiert sie auf den Film. Ausgehend von der These wird exemplarisch aufgezeigt, wie Scham- und Schuldnarrative entstehen und wie sehr Ozus Filme von der Darstellung der Scham geprägt sind. Die Filme Equinox Flower, Early Spring (Sōshun, 1956) und An Autumn Afternoon dienen als Analysebeispiele dafür.
Kapitel 10, Ausblick, wagt eine kurze und knappe Prognose und zeigt auf, welche Gebiete eine künftige Ozu-Forschung thematisieren könnte.